Manchmal habe ich das Gefühl, mich wieder einmal in meiner ursprünglichen Profession, der Germanistik, etwas weiter bilden zu müssen und lese diesmal dazu Robert Gernhardts „Was das Gedicht alles kann. Texte zur Poetik“. Die Lyrik ist ohnehin ein Bereich, dem ich aus Unsicherheit lieber eher immer aus dem Weg gehe. Schon in der Schule nicht davon begeistert, ist auch beim Studium in dieser Richtung nicht allzu viel passiert und als Lehrerin bleibts meistens bei Minnelyrik, Barockgedichten, etwas Romantik und der Experimentellen.
Aber Gerhardt kann mich bei etwas abholen, das mir viel näher ist, er nennt es „Geselligkeitsermöglichung durch Poesie“ – und ich Kommunikation. Am Ende der Zweiten Düsseldorfer Vorlesung (2006), die den Untertitel „Ein Gang durch die Kopierstuben, die Hallräume, den Chat-Room und das Fitneß-Studio der Dichter“ trägt, zitiert er Goethe. Lotte und Werther haben sich gerade kennengelernt:
Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts [auch ein schönes Wort!], und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogengestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoss.
Heute würde unter den Jugendlichen das mit den Gefühlen nicht mehr funktionieren (mit den Erwachsenen auch nicht). Konnotationen sind möglich, wenn man eine Figur oder den Titel einer Fernsehserie (Charly Harper, Homer Simpson oder Seinfeld) erwähnt oder ein verbreitetes YouTube-Video.
Gernhardt schreibt anschließend:
Klopstock – weiter nichts. Da ist keine Gedichtstrophe vonnöten, keine Gedichtzeile, nicht einmal der Gedichttitel „Frühlingsfeier“ – der Dichtername genügt. Zwei Silben entbinden einen Strom von Empfindungen: Goethe macht uns zu Zeugen einer Kommunikationsbeschleunigung, von der die jungen Menschen von heute nur träumen können, wenn sie sich von Dichtern unserer Tage im Stich gelassen, angesichts eines gewaltigen Naturschauspiels und eines noch unbekannten, dunkel lockenden Partners mit dem kurrenten Betroffenheitsjargon behelfen müssen: Du, ich weiß nicht, mir gibt so ein Gewitter unheimlich viel, also auch emotional – was macht Regen eigentlich mit dir? (S 64).
Hier übrigens Klopstocks Ode (die ich jetzt zu ersten Mal gelesen habe) kopiert aus dem Projekt Gutenberg:
Die Frühlingsfeier
Friedrich Gottlieb Klopstock
Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen! schweben nicht,
Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,
Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten!
Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
Rann aus der Hand, des Allmächtigen auch!Da der Hand des Allmächtigen
Die größeren Erden entquollen!
Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!Da ein Strom des Lichts rauscht‘, und unsre Sonne wurde!
Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen
Der Wolk‘ herab, und den Orion gürtete,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!Wer sind die tausendmal tausend, wer die Myriaden alle,
Welche den Tropfen bewohnen, und bewohnten? und wer bin ich?
Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen!
Mehr, wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!Aber du Frühlingswürmchen,
Das grünlichgolden neben mir spielt,
Du lebst; und bist vielleicht
Ach nicht unsterblich!Ich bin heraus gegangen anzubeten,
Und ich weine? Vergieb, vergieb
Auch diese Thräne dem Endlichen,
O du, der seyn wird!Du wirst die Zweifel alle mir enthüllen,
O du, der mich durch das dunkle Thal
Des Todes führen wird! Ich lerne dann,
Ob eine Seele das goldene Würmchen hatte.Bist du nur gebildeter Staub,
Sohn des Mays, so werde denn
Wieder verfliegender Staub,
Oder was sonst der Ewige will!Ergeuß von neuem du, mein Auge,
Freudenthränen!
Du, meine Harfe,
Preise den Herrn!Umwunden wieder, mit Palmen
Ist meine Harf‘ umwunden! ich singe dem Herrn!
Hier steh ich. Rund um mich
Ist Alles Allmacht! und Wunder Alles!Mit tiefer Ehrfurcht schau ich die Schöpfung an,
Denn Du!
Namenloser, Du!
Schufest sie!Lüfte, die um mich wehn, und sanfte Kühlung
Auf mein glühendes Angesicht hauchen,
Euch, wunderbare Lüfte,
Sandte der Herr! der Unendliche!Aber jetzt werden sie still, kaum athmen sie.
Die Morgensonne wird schwül!
Wolken strömen herauf!
Sichtbar ist, der komt, der Ewige!Nun schweben sie, rauschen sie, wirbeln die Winde!
Wie beugt sich der Wald! wie hebt sich der Strom!
Sichtbar, wie du es Sterblichen seyn kanst,
Ja, das bist du, sichtbar, Unendlicher!Der Wald neigt sich, der Strom fliehet, und ich
Falle nicht auf mein Angesicht?
Herr! Herr! Gott! barmherzig und gnädig!
Du Naher! erbarme dich meiner!Zürnest du, Herr,
Weil Nacht dein Gewand ist?
Diese Nacht ist Segen der Erde.
Vater, du zürnest nicht!Sie komt, Erfrischung auszuschütten,
Über den stärkenden Halm!
Über die herzerfreuende Traube!
Vater, du zürnest nicht!Alles ist still vor dir, du Naher!
Rings umher ist Alles still!
Auch das Würmchen mit Golde bedeckt, merkt auf!
Ist es vielleicht nicht seelenlos? ist es unsterblich?Ach, vermöcht‘ ich dich, Herr, wie ich dürste, zu preisen!
Immer herlicher offenbarest du dich!
Immer dunkler wird die Nacht um dich,
Und voller von Segen!Seht ihr den Zeugen des Nahen den zückenden Strahl?
Hört ihr Jehova’s Donner?
Hört ihr ihn? hört ihr ihn,
Den erschütternden Donner des Herrn?Herr! Herr! Gott!
Barmherzig, und gnädig!
Angebetet, gepriesen
Sey dein herlicher Name!Und die Gewitterwinde? sie tragen den Donner!
Wie sie rauschen! wie sie mit lauter Woge den Wald durchströmen!
Und nun schweigen sie. Langsam wandelt
Die schwarze Wolke.Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl?
Höret ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn?
Er ruft: Jehova! Jehova!
Und der geschmetterte Wald dampft!Aber nicht unsre Hütte!
Unser Vater gebot
Seinem Verderber,
Vor unsrer Hütte vorüberzugehn!Ach, schon rauscht, schon rauscht
Himmel, und Erde vom gnädigen Regen!
Nun ist, wie dürstete sie! die Erd‘ erquickt,
Und der Himmel der Segensfüll‘ entlastet!Siehe, nun komt Jehova nicht mehr im Wetter,
In stillem, sanftem Säuseln
Komt Jehova,
Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens!