So, zu Ferienbeginn schreibe ich noch über ein Ereignis, das Mitte Jänner stattgefunden hat und über das ich unbedingt noch weiter nachdenken wollte. Aber zuerst die Vorgeschichte, eine etwas längere ;-).
In den Sommerferien 2011 las ich den Erzählungsband des jungen Grazer Autors Clemens Setz „Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes“ und war rundum begeistert. Endlich ein junger österreichischer Autor, von dessen Texten ich mir vorstellen konnte, dass sie meinen SchülerInnen, denen der jetzigen 7. Klasse (11. Schulstufen, Alter von 17 – 20) gefallen könnten und nahm mir vor, wenn sie sofort mit meiner Klasse zu lesen, wenn das Taschenbuch erscheinen würde. Meine Kurzrezension für Librarything und für mein Blog sah folgendermaßen aus:
Misstrauisch startete ich mit der kürzesten Erzählung, dem Gespräch der Eltern von Hänsel und Gretel. In der Nacht, bevor die Kinder zum ersten Mal ausgesetzt werden sollen, ist die Frau so genervt davon, dass der Holzfäller ein so schwacher Suderant ist, dass sie es fast nicht mehr mit ihm aushält. Ihre Lösung ist es, die Kinder loszuwerden um nicht selbst zu verhungern – und das während verzweifelten Geschlechtsverkehrs.
Setz stellt eine Parallelwelt neben der anderen dar – aber jede ist im Bereich unserer Möglichkeiten und schrammt nur haarscharf an der Wirklichkeit vorbei. Eine Frau möchte von ihrem Partner in einem Käfig gehalten werden. Die übertriebenen Ängste eines Vaters um seine Tochter werden wahr gemacht, alte Frauen prostituieren sich auf der Straße als Mütter ungeliebter Erwachsener und lassen sich für Fernsehen bei offener Tür oder Ermahnungen bezahlen, ein Mann findet eine Leiche und behält sie, Menschen finden Befriedigung darin, die Skulptur eines Kindes durch Gewalt zu verändern und werden selbst verändert.
Immer bricht etwas Irreales in den Alltag ein, verändert ihn und wird selbst zum Alltag – in Form von Realitätsverweigerung, Psychosen, Visionen oder es wird selbst Realität. Die Erzählungen sind schräg und spannend. Seit langem hat es mir nicht mehr so gut gefallen einen deutschsprachigen (und sogar österreichischen Autor) zu lesen.
Ich hab das Buch meinen beiden Kindern (damals 16 und 18 Jahre) in die Hand gedrückt, die haben es damals aber natürlich nicht gelesen (mein Sohn beschäftigt sich jetzt aber im Rahmen der Maturavorbereitung mit Clemens Setz) und einigen KollegInnen empfohlen.
Weil ich die Dinge, die mir wichtig sind, meistens nicht vergesse, habe ich zu Beginn des Schuljahres meine SchülerInnen gebeten, sich neben einigen Reclamheften zu Klassik und Romantik auch „Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes“ zu besorgen.
Im November des besuchten mich die Eltern einer meiner Schülerinnen in der Sprechstunde. Etwas peinlich berührt und sehr vorsichtig mir gegenüber. Wenn ich das Gespräch mit meinen eigenen Worten zusammenfasse, meinten sie, dass es sich bei den Erzählungen um sehr wenig frauenfreundlichen Umgang mit der Sexualität, wenn nicht sogar um Pornographie handle. Ich glaube nicht, dass mich etwas in meinem Leben bisher mehr überrascht hat. Natürlich gibt es Textstellen, die eine deutliche Sprache sprechen, aber meine Lektüre lag über ein Jahr zurück und ich hatte keine Erinnerung an pornographische Stellen. Wir vereinbarten also, dass ich mich wieder einlesen würde und dass wir dann ein weiteres Gespräch führen wollten. Klar war nur, dass ich von den 18 Erzählungen, die der Band enthält ohnehin nicht alle im Unterricht besprechen wollte.
Beim Wiederlesen fand ich dann auch eine Erzählung, bei der meiner Meinung nach jede/r selbst entscheiden können muss, ob er/sie lesen will, aber die anderen sind modern, spielen auch ganz offensichtlich in der Gegenwart und behandeln ironisch Themen wie Einsamkeit, Gewalt, Märchen, Isolation, Mobbing und auch Sexualität, aber auf so ironische und absurde Art und Weise, dass der sexuelle Aspekt für mich immer nur Nebensache war und halt dem Fortgang der Geschichte diente. Aber wahrscheinlich kann man darüber verschiedener Ansicht sein.
Vor dem nächsten Elternabend traf ich mich dann mit den Elternvertreterinnen und ich versuchte meinen Standpunkt klar zu machen. Die besonders beanstandeten Erzählungen hatte ich – bis auf eine – ohnehin nicht verwenden wollen und für „Weltbild“ spricht in Zeiten von „Shades of Grey“ (gegen das die Mütter nichts haben) alles: Es geht darin zwar überhaupt nicht um Sexualität und Softporno, sondern „nur“ um das Thema Unterwerfung, aber einen sprachlich ausgezeichneten Text mit einem doch irgendwie vergleichbaren Sujet dem Weltbestseller entgegenzusetzen scheint mir einfach nur richtig. Außerdem sehe in die gute Möglichkeit an Märchen, Kafka etc. anzuknüpfen. Naja, jedenfalls gab es zwar weitere Bedenken und die Bitte, die Unterrichtseinheiten „gut zu begleiten“, aber meine grundsätzlich guten Absichten bei meiner Lektüreauswahl wurden anerkannt. Abschließend wurde ich ersucht, die Ergebnisse unserer Besprechung den inzwischen langsam eintreffenden weiteren Eltern zu erläutern, damit sie sich auf etwaige Fragen ihrer Kinder vorbereiten könnten.
Und jetzt beginnt der „clash of cultures“, der sich aber sehr kurz darstellen lässt: Von „wir müssen unsere Kinder vor einem wenig wertschätzenden Umgang mit der Sexualität beschützen“ bis „wann sollen sie es denn sonst lesen“ und „wir sind froh, dass sie auch so etwas im Unterricht behandeln“, von „können sie nicht etwas Schönes lesen“ bis „Kunst muss auch hässlich sein dürfen“ prallten die Fronten in einen ziemlich emotionalen Diskussion aufeinander. Einen interessanteren Elternabend habe ich bisher noch nie erlebt!
Es ist erstaunlich, welche Lebensentwürfe in der Schule zusammenkommen und dass das alles überhaupt funktionieren kann! Ich habe jedenfalls viel darüber gelernt, wie Erziehung aufgefasst werden kann und dass welche anderen Auffassungen darüber existieren. Toll war, dass die verschiedenen Ansichten durchaus wertschätzend präsentiert wurden. Und jetzt bin ich gespannt, was sich in der Klasse tun wird, wenn wir die Erzählungen nach den Semesterferien lesen werden.
Die Erzählungen, die wir lesen werden:
Weltbild, Die Leiche, Das Gespräch der Eltern von Hänsel und Gretel, Mütter, Die Entschuldigung, Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes, Das Riesenrad, Kleine braune Tiere.