Lyrik persönlich

Posted: 20th August 2011 by juhudo in Allgemein

Nachdem ich immer noch versuche, mich der Lyrik anzunähern, habe ich heute das Bändchen Wörterleuchten von Peter von Matt teilweise gelesen, teilweise durchgeblättert. Sechzig „Kleine Deutungen“ sind über Jahre für die FAZ entstanden.

Über das Interpretieren schreibt er:

Sechzig Solitäre. Sechzig Begegnungen. Der Akt des Lesens fällt zusammen mit dem Akt des Schreibens. Wichtige Nuancen des Textes offenbaren sich dem Interpreten erst im Denkgerangel seines Formulierens.(S 12)

Was die Gedichte in diesem Band verbindet, „ist die Zuneigung des Deuters“. (S 11) Ein paar begegnen mir auch immer wieder, ich habe auch einige gefunden, die mich neu berührt haben. Wiedererkennen bringt mir manches Gedicht näher, andere sind mir egal wie eh und je. Interpretationen helfen da nichts.

Ich schreibe einmal ein paar von denen auf, die mir neu waren und die lustigen oder tragischen Saiten in mir zum Klingen gebracht haben. (Vielleicht tut Lyrik Lesen meinem sachlichen Stil nicht so gut?)

Gotthold Ephraim Lessing

Lied. Aus dem Spanischen

Gestern liebt‘ ich,
Heute leid‘ ich,
Morgen sterb‘ ich:
Dennoch denk‘ ich
Heut und morgen
Gern an gestern.

 

Adalbert von Chamisso

Tragische Geschichte

’s war Einer, dem’s zu Herzen ging,
Daß ihm der Zopf so hinten hing,
Er wollt‘ es anders haben.

So denkt er denn: wie fang ich’s an?
Ich dreh‘ mich um, so ist’s gethan –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da hat er flink sich umgedreht,
Und wie es stund, es annoch steht –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Da dreht er schnell sich anders ‚rum,
’s wird aber noch nicht besser drum –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich links, er dreht sich rechts,
Es thut nichts Gut’s, es thut nichts Schlecht’s –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Und seht, er dreht sich immer noch,
Und denkt: es hilft am Ende doch –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

Er dreht sich wie ein Kreisel fort,
Es hilft zu nichts, in einem Wort –
Der Zopf, der hängt ihm hinten.

 

Hermann von Gilm zu Rosenegg

Allerseelen

Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag herbei
Und lass uns wieder von der Liebe reden,
Wie einst im Mai.

Gieb mir die Hand, dass ich sie heimlich drücke,
Und wenn man’s sieht, mir ist es einerlei;
Gieb mir nur einen deiner süßen Blicke,
Wie einst im Mai.

Es blüht und funkelt heut auf jedem Grabe,
Ein Tag im Jahre ist den Toten frei;
Komm an mein Herz, dass ich dich wieder habe,
Wie einst im Mai.

 

Conrad Ferdinand Meyer

Nicola Pesce

Ein halbes Jährchen hab ich nun geschwommen
Und noch behagt mir dieses kühle Gleiten,
Der Arme lässig Auseinanderbreiten –
Die Fastenspeise mag der Seele frommen!

Halb schlummernd lieg ich stundenlang, umglommen
Von Wetterleuchten, bis auf allen Seiten
Sich Wogen türmen. Männlich gilts zu streiten.
Ich freue mich. Stets bin ich durchgekommen.

Was machte mich zu Fisch? Ein Mißverständnis
Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntnis,
Mein Wanderdrang und meine Farbenlust.

Die Furcht verlernt ich über Todestiefen,
Fast bis zum Frieren kühlt ich mir die Brust –
Ich bleib ein Fisch und meine Haare triefen!

 

Stefan George

Vogelschau

Weiße schwalben sah ich fliegen,
Schwalben schnee- und silberweiß,
Sah sie sich im winde wiegen,
in dem winde hell und heiß.
Bunte häher sah ich hüpfen,
Papagei und kolibri
Durch die wunder-bäume schlüpfen
in dem wald der Tusferi.

Große raben sah ich flattern,
Dohlen schwarz und dunkelgrau
Nah am grunde über nattern
Im verzauberten gehau.

Schwalben seh ich wieder fliegen,
Schnee- und silberweiße schar,
Wie sie sich im winde wiegen
In dem winde kalt und klar!

 

 

Günter Eich

Brüder Grimm

Brennesselbusch.
Die gebrannten Kinder
warten hinter den Kellerfenstern.
Die Eltern sind fortgegangen,
sagten, sie kämen bald.

Erst kam der Wolf,
der die Semmeln brachte,
die Hyäne borgte sich den Spaten aus,
der Skorpion das Fernsehprogramm.

Ohne Flammen
brennt draußen der Brennesselbusch.
Lange
blieben die Eltern aus.

 

Ernst Jandl

waunsas wissn woiz     sai greiz
woraus hoez     und bei an jedn hommaschlog
hods eam grissm     und gschrian hoda
wauns es ned von söwa     gwusd haum soiz.

 

Zur Rezension des Buches in der FAZ.